Evident LogoOlympus Logo

Discovery Blog

Rotifera: Eine Einführung in die mikroskopisch kleine Welt der Rädertierchen

Autor  -
Die Rädertierchen Synchaeta sp. und Testudinella patina unter dem Mikroskop

Rädertierchen sind mikroskopisch kleine Wassertiere und bilden den Stamm der Rotifera. Ihren Namen verdanken sie den rotierenden Flimmerhärchen auf ihrem Kopf, die der Fortbewegung und dem Filtern von Nahrungspartikeln dienen.

Das Räderorgan besitzt rotierende Flimmerhärchen, die an sich drehende Räder erinnern.

Es gibt über 2000 verschiedene Arten von Rädertierchen auf der ganzen Welt. Rädertierchen leben überwiegend im Süßwasser wie etwa in Teichen und Seen. Sie sind aber auch in Moos, Flechten, Böden, Abwasser, Meeresumgebungen, Permafrost und sogar in und an anderen Tieren zu finden. 

Sammeln von Rädertierchen zur Betrachtung unter dem Mikroskop

Sammeln von Rädertierchen zur Betrachtung unter dem Mikroskop. Bildquelle: Chloé Savard.

Zwar leben einige Rädertierchenarten parasitär, aber die meisten sind frei schwimmend und Bestandteil des Planktons, leben im Sediment, dauerhaft angeheftet an Unterwasserpflanzen oder in einer Hülle aus gelatinösem Sekret. Diese winzigen wirbellosen Tiere bilden eine äußerst vielfältige Gruppe mit vielen verschiedenen morphologischen Merkmalen und Fortbewegungsstrategien, um sich an unterschiedliche Umweltbedingungen und Feinde anzupassen.

Allgemeine Biologie von Rädertierchen

Sind Rädertierchen einzellig oder vielzellig? Rädertierchen mögen den Anschein erwecken, einzellige Mikroorganismen zu sein. Tatsächlich bestehen sie aber aus etwa 1000 Zellen, obwohl sie kleiner sind als viele einzellige Protozoen.

Rädertierchen sind in der Regel zwischen 0,1 und 0,5 mm lang, können aber auch eine Länge von bis zu 2 mm erreichen. Die kleinsten Rädertierchen sind nur sechsmal so groß wie die roten Blutkörperchen eines Menschen, also etwa 0,006 bis 0,008 mm (6–8 µm).

Euchlanis sp. Rädertierchen unter dem Mikroskop

Euchlanis sp. Rädertierchen, aufgenommen mit differenziellem Interferenzkontrast (DIC) Bildquelle: Chloé Savard.

Rädertierchen weisen unterschiedliche morphologische Merkmale auf, doch alle besitzen den gleichen Körperaufbau: einen Kopf mit Räderorgan, einen Rumpf und einen Fuß. Der Fuß verfügt normalerweise über zwei getrennte Zehen. Einige Rädertierchenarten können bis zu vier Zehen besitzen, andere haben dagegen überhaupt keine Zehen. 

Je nach Art kann der Fuß wie ein Teleskop ausfahren. Dieses Phänomen ist insbesondere bei Rädertierchen der Ordnung Bdelloidea, aber auch bei der Art Rotaria neptunia zu beobachten. Der Fuß kann auch über Drüsen verfügen, die eine klebrige Substanz absondern. Rädertierchen verwenden diese Substanz als Klebstoff, um sich vorübergehend an verschiedenen Substraten wie Pflanzen, Steinen, Holzstücken und Tieren festzuhalten. 

Bdelloides Rädertierchen unter dem Mikroskop

Bdelloides Rädertierchen, aufgenommen mittels DIC-Mikroskopie bei 200-facher Vergrößerung. Bildquelle: Chloé Savard.

Die meisten im Plankton oder frei schwimmenden Rädertierarten haben keinen Fuß. Einige Rädertierchen gehören zu den rein sessilen Arten. Sie können im Larvenstadium umherschwimmen, bis sie das perfekte Substrat finden, um sich dort für den Rest ihres Lebens festzusetzen. Dies ist der Fall bei der Gattung Stephanoceros fimbriatus.

Obwohl Rädertierchen weder über einen Herz-Kreislauf- noch über ein Atmungssystem verfügen, haben diese primitiven Lebewesen ein Gehirn, kleine rote Augen, ein vollständiges Verdauungssystem sowie ein Muskel-, Fortpflanzungs- und Ausscheidungssystem.

Zum Schutz der meisten Organsysteme, die sich im Inneren des Rumpfes befinden, besitzen Rädertierchen eine Körperhaut, auch Integument genannt, die entweder sehr dick und hart oder dünn, weich und flexibel sein kann. Rädertierchen mit einem harten Panzer werden als Loricate bezeichnet, weichhäutige Rädertierchen als Illoricate.

Bei manchen Loricate-Rädertierchen kann das Integument am vorderen oder hinteren Ende zur Abwehr von Fressfeinden Stacheln aufweisen. Bei bestimmten Keratella- und Asplanchna-Arten wurde gezeigt, dass sich Stacheln als Reaktion auf lösliche chemische Signale bilden, die von wirbellosen Feinden wie zum Beispiel Ruderfußkrebsen freigesetzt werden. Je mehr Räuber sich in der Umgebung der Keratella befinden, desto mehr chemische Signale werden freigesetzt und desto eher neigen diese Rädertierchen dazu, Stacheln zu bilden.

Das Räderorgan (Corona) von Rädertierchen verfügt über rotierende Flimmerhärchen, die einen Wasserstrudel erzeugen, um Nahrungspartikel zu sammeln und sich im Wasser fortzubewegen.

Bdelloide Rädertierchen können wie Bärtierchen in einen Ruhezustand namens Kryptobiose oder genauer gesagt in eine Trockenstarre (Anhydrobiose) fallen. In diesem Zustand können sie Austrocknung, d. h. den vollständigen Verlust von Wasser aus ihrem Körper, über lange Zeiträume hinweg überleben.

Bdelloide Rädertierchen können in die Trockenstarre übergehen, um Pilzparasiten zu entkommen oder um extreme Kälte oder ionisierende Strahlung zu überleben. Wissenswert: In einer Studie vom Juni 2021 fand man im arktischen Permafrostboden ein bdelloides Rädertierchen, das dort 24 000 Jahre lang eingefroren war!

Wovon ernähren sich Rädertierchen?

Neben Mikrokrustentieren und Protisten bilden Rädertierchen die dritte große Gruppe im Süßwasser-Zooplankton. Sie ernähren sich von organischem Material, Bakterien, Hefen, Algen, kleinen Wimperntierchen und anderen Protozoen und können ihr Fressverhalten je nach Umweltbedingungen und Beutetiervorkommen anpassen.

Einige Rädertierchen sind sogar groß genug, um kleinere Rädertierchen zu jagen!

Stephanoceros fimbriatus Rädertierchen unter dem Mikroskop

Stephanoceros fimbriatus Rädertierchen, aufgenommen mit DIC-Mikroskopie bei 100-facher Vergrößerung. Bildquelle: Chloé Savard.

Mithilfe der Flimmerhärchen erzeugen Rädertierchen einen Wasserstrudel, mit dem sie Nahrungspartikel einfangen und sie direkt zur Mundöffnung führen. Nach dem Eintreten in die Mundöffnung wird die Nahrung in einem kontraktierenden Kaumagen (Mastax) zerkleinert – ein einzigartiges Merkmal von Rädertierchen! Beim Zerkleinern der Nahrung sieht der Mastax ein wenig wie ein schlagendes Herz aus, was zunächst verwirrend sein kann, da Rädertierchen über kein Herz-Kreislaufsystem verfügen.

Der kontraktierende Kaumagen hat eine kieferartige Struktur mit kutikularen Hartelementen (Trophi), mit denen Rädertierchen verschiedene Nahrungspartikel greifen, zermahlen und zerkleinern. Der Aufbau der Trophi kann von Art zu Art variieren, sodass er bei der Bestimmung von Rädertierchen ein wertvolles Hilfsmittel ist. Die verdaute Nahrung verlässt den Kaumagen und wandert durch die Speiseröhre bis in den Magen und durch den Darm, bis sie schließlich am After ausgeschieden wird.

Rädertierchen sind selbst Beute vieler aquatischer Räuber wie zum Beispiel von Protisten (insbesondere Wimperntierchen), Insekten, anderen Rädertierchen, Wasserflöhen, Ruderfußkrebsen und Fischen. Um ihren Feinden zu entkommen, haben Rädertierchen viele Strategien entwickelt: Sprungbewegungen, Schleimhüllen, Stacheln und Verpanzerung.

Wie vermehren sich Rädertierchen?

Die Fortpflanzungsmethoden von Rädertierchen sind je nach Art unterschiedlich. Rädertierchen vermehren sich entweder geschlechtlich oder ungeschlechtlich. In beiden Fällen sind dazu aber Eier erforderlich.

Bei Rädertierchenarten, die sich geschlechtlich fortpflanzen, sind in einer Population sowohl männliche als auch weibliche Tiere vorhanden. Die miktischen weiblichen Tiere produzieren haploide Eier, die vom Spermatozoid eines männlichen Tieres befruchtet werden müssen. Werden diese Eier nicht befruchtet, entstehen daraus durch Parthenogenese männliche Tiere. Bei planktonischen Arten, die sich geschlechtlich fortpflanzen, ist häufig ein Geschlechtsdimorphismus zu beobachten, d. h. männliche Rädertierchen besitzen keinen Fuß, sind kleiner und schwimmen schneller als weibliche Rädertierchen.

Auf der anderen Seite des Spektrums vermehren sich bdelloide Rädertierchen ungeschlechtlich durch Parthenogenese. Ihre Populationen bestehen ausschließlich aus weiblichen Tieren. Zudem müssen die Eier nicht durch das Spermatozoid eines Männchens befruchtet werden, um weibliche Rädertierchen zu erzeugen. Diese Eier werden als amiktisch bezeichnet und sind diploid.

Bdelloide Rädertierchen gehören neben bestimmten Arten von Wasserflöhen, Blattläusen, Bienen und Ameisen zu den wenigen Tiergruppen ohne männliche Artgenossen. Vor ungefähr 40 Millionen Jahren haben sich bdelloide Rädertierchen zu einer rein weiblichen Gruppe entwickelt!

Wie lassen sich Rädertierchen unter dem Mikroskop betrachten?

Rädertierchen sind fast überall zu finden. In Proben aus einem Teich, einem See oder sogar aus Dachrinnen von Gebäuden ist mit Sicherheit mindestens eine Rädertierchenart zu finden, die unter dem Mikroskop betrachtet werden kann.

Sammeln von Rädertierchen zur Betrachtung unter dem Mikroskop

Sammeln von Rädertierchen zur Betrachtung unter dem Mikroskop. Bilderquelle: Chloé Savard.

Bdelloide Rädertierchen leben vermehrt in Moos und Flechten. Da sie sich wahrscheinlich in einem Ruhezustand befinden, ist es wichtig, das Moos oder die Flechte 24 Stunden lang einzuweichen, bevor man das Wasser wieder herausdrückt und die Petrischale unter das Mikroskop stellt.

Bdelloide Rädertierchen bewegen sich häufig krabbelnd und nicht schwimmend fort. Daher sind sie leicht mit einem Wurm zu verwechseln, wenn man vorher noch nie ein Rädertierchen gesehen hat (so erging es jedenfalls mir!). Für eine optimale Betrachtung von Rädertierchen empfehle ich, die Hellfeld- oder Dunkelfeldbeleuchtung eines Verbundmikroskops zu verwenden. 

Referenzen und weiterführende Literatur

A. A. Allen (1968). Morphology of the planktonic rotifer Polyarthra vulgaris. Transactions of the American Microscopical Society, S. 60-69.

K. G. Bogdan, J. J. Gilbert (1982). Seasonal patterns of feeding by natural populations of Keratella, Polyarthra, and Bosmina: Clearance rates, selectivities, and contributions to community grazing 1. Limnology and Oceanography, 27(5), S. 918-934.

S. B. J. De Paggi, R. Wallace, D. Fontaneto, M. C. Marinone (2020). Phylum Rotifera. Thorp and Covich’s Freshwater Invertebrates, S. 145–200.

E. Gladyshev, M. Meselson (2008). Extreme resistance of bdelloid rotifers to ionizing radiation. Proceedings of the National Academy of Sciences, 105(13), S. 5139-5144.

K. E. Gribble, T. W. Snell (2018). Rotifers as a Model for the Biology of Aging. Conn’s Handbook of Models for Human Aging, S. 483–495.

C. P. Hickman, L. S. Roberts, A. Larson, W. C. Ober, C. Garrison, (2015). Animal
diversity. WC Brown. 183.

C. Ricci, C. (1998). Anhydrobiotic capabilities of bdelloid rotifers. Hydrobiologia, 387, S. 321-326.

H. Segers, W. H. De Smet (2007). Diversity and endemism in Rotifera: a review, and Keratella Bory de St Vincent. Protist Diversity and Geographical Distribution, S. 69-82.

L. Shmakova, S. Malavin, N. Iakovenko, T. Vishnivetskaya, D. Shain, M. Plewka, E. Rivkina (2021). A living bdelloid rotifer from 24,000-year-old Arctic permafrost. Current Biology, 31(11), R712-R713.

R. A. J. Taylor (2019). Other invertebrates. Taylor’s Power Law, S. 305–326.

R. L. Wallace (2002). Rotifers: exquisite metazoans. Integrative and Comparative Biology, 42(3), S. 660-667.

R. L. Wallace, T. W Snell, E. J. Walsh, S. S. S. Sarma, , H. Segers (2019). Phylum Rotifera. Thorp and Covich’s Freshwater Invertebrates, S. 219–267.

D. B. M. Welch, M. Meselson (2000). Evidence for the evolution of bdelloid rotifers without sexual reproduction or genetic exchange. Science, 288(5469), S. 1211-1215.

J. D. Wininger (2004). Parthenogenetic Stem Cells. Handbook of Stem Cells, S. 635–637.
 

Ähnliche Artikel

Avalon findet ihr Wunschmikroskop zur Untersuchung von Rädertierchen

Stars und Sternchen, Spinat und Säugetiere – Unsere beliebtesten Mikroskopiebilder im Juli 2023 

Ein sehr grüner Sommermonat – Unsere beliebtesten Mikroskopiebilder im Juni 2023
 

Mikrobiologin

Chloé Savard, unter @tardibabe auf Instagram zu finden, ist eine Mikrobiologin aus Montreal, die vor drei Jahren begann, die Welt der Mikroskopie für sich zu entdecken. Als ausgebildete Musikerin (sie spielt Schlagzeug) beschloss sie, Mikrobiologie zu studieren, um ihren Horizont zu erweitern und einigen existenzielle Fragen, die sie seit ihrer Kindheit beschäftigten, auf den Grund zu gehen. Auf ihrem Instagram-Kanal @tardibabe versucht sie, das Unsichtbare um uns herum in Kunst zu verwandeln und gleichzeitig auf die Empfindlichkeit mikroskopischer Ökosysteme aufmerksam zu machen. Außerdem liebt sie es, mit verschiedenen Nahrungsmitteln und Alltagsgegenständen zu experimentieren.

5.10.2023
Sorry, this page is not available in your country
Discovery Blog Sign-up
You will be unable to submit the form unless you turn your javascript on.

By clicking subscribe you are agreeing to our privacy policy which can be found here.

Sorry, this page is not
available in your country.

Sorry, this page is not available in your country